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Title
Geschichtsdinge. Gallische Vergangenheit und französische Geschichtsforschung im 18. und frühen 19. Jahrhundert


Author(s)
Regazzoni, Lisa
Series
Cultures and Practices of Knowledge in History (5)
Published
Extent
508 S.
Price
€ 94,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Tobias Winnerling, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Geschichtswissenschaften

Wie wird ein Artefakt zum historischen Bedeutungsträger, und welche Rückwirkungen ergeben sich daraus für die Geschichtswissenschaft? Diese Fragen stehen im Zentrum der vorliegenden Studie. Es handelt sich dabei um die Druckfassung der 2019 an der Goethe-Universität Frankfurt eingereichten Habilitationsschrift der Autorin. Sie kann dafür auf umfangreiche Vorarbeiten aus ihren Forschungen auf diesem Gebiet zurückgreifen, deren Ergebnisse auch Eingang in das Buch gefunden haben.1

Als Untersuchungsfeld dient ihr die Befassung französischer Gelehrter (die behandelten Autoren sind allesamt männlich) mit dem, was sie während des 18. Jahrhunderts als gallische Geschichte und dementsprechend als Überbleibsel dieser Geschichte, als gallische Artefakte, verstanden. Der Gedanke einer vor-antiken Vergangenheit Frankreichs war, wie die Autorin deutlich macht, den Gelehrten des 18. Jahrhunderts fremd, so dass auch stein- und bronzezeitliche Funde umstandslos als „gallisch“ eingeordnet wurden.

Dabei geht es ihr vorrangig um die Artefakte selbst und die epistemischen Praktiken, die mit ihnen verknüpft wurden und ihren Niederschlag in zahlreichen Veröffentlichungen fanden. Die Rolle dieser Theorien und Schriften für die Entstehung der „gallischen Archäologie“ [S.2] als Wissenschaft im Kontext der Erfindung und Ausgestaltung eines französischen Nationalbewusstseins steht demgegenüber etwas zurück, wird aber immer mit angesprochen. Die Autorin zieht dafür ein umfangreiches Korpus gedruckter und ungedruckter Schriften heran, von Buchveröffentlichungen und Manuskripten über zeitgenössische Periodika bis hin zu Briefwechseln der behandelten Autoren. Vieles davon ist vor allem provinzial- und lokalgeschichtliches Material, das erst selten so intensiv für größere Zusammenhänge befragt wurde. Hier hat die Verfasserin sehr gründlich recherchiert und eine Fülle unterschiedlicher Quellen überzeugend kombiniert.

Theoretisch fokussiert sie sich vor allem auf den Umgang mit den Artefakten als materiellen Zeugnissen, den sie analytisch sowohl praxeologisch wie als epistemisches Paradigma fassen möchte. Hierfür führt sie die analytischen Kategorien des „Gedenkdings“ und des „Geschichtsdings“ ein, die sie entlang der traditionellen historiographischen Scheidung von Tradition und Überrest aufbaut. Als „Gedenkdinge“ begriffen wurden die Artefakte als planvoll erschaffene Zeugnisse mit Memorialfunktion gesehen, als „Geschichtsdinge“ hingegen als unfreiwillige Quellen für die Zeiten, denen sie entstammten.

Daran anschließend kann sie überzeugend darlegen, wie die französischen Gelehrten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts als Reaktion auf den pyrrhonistischen Skeptizismus sich den materiellen Zeugnissen als vermeintlich unverändert überlieferten Quellen zuwandten. Auf dieser Basis sollte eine Geschichtsschreibung möglich werden, die nicht nur den Problemen entkam, die für schriftliche Überlieferungen angenommen wurden, sondern auch historische Felder bearbeiten konnte, für die es keine oder kaum schriftliche Quellen gab, wie die vor-römische Vergangenheit des heutigen Frankreichs. Damit ging erstmalig ein Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit des materiellen kulturellen Erbes einher. Diese zunächst stark antiquarisch geprägte Forschung entwickelte sich im Lauf des 18. Jahrhunderts zu einer komplexen Mischung aus antiquarischen, traditionellen historischen, proto-ethnographischen und identitätsstiftenden Techniken, mit denen aus der Empirie verwertbares Wissen generiert werden sollte. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts traten im Zuge der zunehmenden Nationalisierung der französischen Erinnerungskultur die identitätsstiftenden Anteile stärker in den Vordergrund.

Die Struktur des Buches ist zwar übergreifend chronologisch angelegt und bildet das Fortschreiten vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert ab, innerhalb dieses chronologischen Rahmens ist es aber systematisch organisiert. Die einzelnen Kapitel sind also thematisch fokussiert und handeln jeweils einzelne Punkte des Untersuchungsfeldes ab. Sie sind dabei in jeweils recht kurze Unterkapitel untergliedert.

Der Rezensent hat selbst vor kurzem eine ganz ähnlich aufgebaute Arbeit vorgelegt und ist sich daher nicht nur über die organisatorischen Schwierigkeiten im Klaren, die damit verbunden sind. Alle in dieser Hinsicht monierten Punkte fallen ebenso auf ihn selbst zurück.

Die kleinteilige Struktur hat den Vorteil, viele verschiedene Aspekte in handlicher Form präsentieren zu können. Sie ist allerdings weniger gut geeignet, um daraus ein übergreifendes Narrativ zu konstruieren. Die einzelnen Teilstücke müssen schließlich stets nicht nur untereinander, sondern auch mit dem übergreifenden Ganzen verzahnt werden, und es gilt, Wiederholungen zu vermeiden. Das gelingt der Verfasserin nicht immer. Vor allem zwischen Kapitel 1 und Kapitel 2, aber auch später finden sich einige Wiederholungen, die durchaus vermeidbar gewesen wären. Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln und Unterkapiteln finden sich zwar in den Fußnoten, aber davon macht die Autorin nur relativ sparsam Gebrauch. Die Indizes beschränken sich auf ein Personenregister. Ein Ortsregister wäre, gerade weil viele Orte in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen, durchaus hilfreich gewesen. Zwischenfazite nach den Oberkapiteln helfen aber dabei, die Verbindungen zwischen den präsentierten Beispielfällen herauszuarbeiten und die analytischen Ergebnisse zusammenzuführen.

An manchen Stellen fehlt es dennoch an einer übergreifenden Integration der Materialien. Bei der Besprechung der Säule von Cussy in Kapitel 3.3.3 wird zwar die eingangs getroffene Unterscheidung zwischen „Geschichtsding“ und „Gedenkding“ wieder aufgegriffen, aber es wird nicht recht klar, um was für eine Art von Monument es sich bei der Säule letztlich handelte und wo sie sich genau befand (vgl. S. 302-304). Auch der Querverweis auf Kapitel 2.5 hilft leider nur wenig weiter, ebenso wenig die Abbildungen (S. 242-243).2 Hier wirkt sich die kaleidoskopische Struktur nachteilig aus, weil zumindest der Rezensent an dieser Stelle den Überblick verlor. Auch die eingangs elaborierte analytische Terminologie wird in einigen der Unterkapitel nicht so prominent eingesetzt, wie nach der Einleitung zu erwarten gewesen wäre, vermutlich, weil diese auf ältere Vorarbeiten zurückgehen.

Als analytisch fruchtbar erweist sich die Differenzierung von „Gedenkdingen“ und „Geschichtsdingen“ vor allem in der Behandlung des französischen Denkmalschutzes, der sich als Reaktion auf den Ikonoklasmus der französischen Revolution in den Jahren 1792/93 entwickelte und in dessen Zuge „Gedenkdinge“ der Monarchie, wie etwa Statuen Louis XIV., zu republikanischen „Geschichtsdingen“ umgedeutet wurden, um sie als erhaltenswert klassifizieren zu können.

Die Fokussierung liegt insgesamt sehr strikt auf den französischen Diskussionen und Diskutanten. Das ist zwar einerseits hilfreich, weil es der Konzentration auf die eigentliche Fragestellung dient, führt aber auch dazu, dass manches unausgesprochen bleibt. Dass die Diskussion zwischen Bernard de Montfaucon und Nicolas Mahudel, ob Steinwerkzeuge prinzipiell älter sein müssten als metallische Artefakte, bereits die Theorie der Kulturstufen vorwegnimmt, wird nur mit einem kurzen Verweis auf Turgot angedeutet (S. 186-187). Die Dimension dieser Debatte im späten 18. Jahrhundert wird hier nicht deutlich. Nicht-französische Themenstränge werden nur selektiv angesprochen, wobei hin und wieder kleinere Ungenauigkeiten vorkommen.3 Es ließe sich diskutieren, ob damit nicht unter der Hand doch wieder ein anachronistisches Moment „der teleologischen Fixierung heutiger Forscher und Forscherinnen darauf, frühe Formen moderner nationalistischer Tendenzen zu identifizieren“ in die Arbeit einzieht (S. 152). Diese Kritikpunkte sollen nicht dazu führen, die Verdienste der Autorin zu schmälern, sondern deutlich machen, wo das Buch hinter den selbstgesteckten Zielen zurückbleibt, weil seine Potentiale nicht immer voll ausgeschöpft erscheinen. Das ändert aber nichts daran, dass hier eine eindrückliche und erkenntnisreiche Arbeit vorliegt.

Die französischen Diskussionen um die „monuments“, die Denkmale der als gallisch und keltisch wahrgenommenen Vergangenheit werden sehr genau, mit großer Detailkenntnis und treffender Quellenarbeit geschildert. Die Gegensätze zwischen Paris und der Provinz, zwischen arrivierten Koryphäen und Amateurgelehrten, zwischen Lokalgeschichte und Nationalgeschichte, Kirchentreuen und Aufklärern und nicht zuletzt zwischen den Anhängern verschiedener Interpretationen ein und desselben Denkmals werden deutlich und machen die Entwicklung der Debatten und die Ausdifferenzierung verschiedener historiographischer Disziplinen plastisch nachvollziehbar. Gerade der Einbezug der Lokalgeschichten und ihrer Akteure dient dabei als wichtiges Korrektiv, das eine Geschichte der (französischen) Geschichtsschreibung als glatte Fortschrittserzählung wirksam dekonstruiert. Allen, die Freude an der Komplexität frühneuzeitlicher Wissenschaftslandschaften haben, sei das Werk daher sehr ans Herz gelegt.

Anmerkungen:
1 Insgesamt verarbeitet die Autorin sieben zwischen 2012 und 2019 bereits erschienene eigene Aufsätze.
2 Es handelt sich um eine einzelne, freistehende spätantike gallo-römische Säule aus dem 3. Jahrhundert, die sich beim heutigen Ort Cussy-la-Colonne im Department Côte d'Or in der Bourgogne befindet.
3 Der „dänische“ Gelehrte Adriaan Reland (S. 172) war Niederländer.

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